Einfach schwingen lassen

Die Dynamik grosser Balkenbrücken unter Erdbeben und deren zweckmässige Lagerung sind ein anspruchsvolles Fachgebiet. Spezielle Erdbebenlager müssen horizontal weich sein, um eine gedämpfte Schwingung zu ermöglichen. Mit solchen Lagern konnte die "Grossi Brigga Gesch" bei Raron VS optimal ertüchtigt werden.

Text: Prof. Dr. Hugo Bachmann, Dr. Simon Hoffmann
Publiziert: TEC21 27/2024

Brücken gehören oft zu überlebenswichtigen Infrastrukturbauten, den sogenannten "Lifelines". Darunter versteht man Bauwerke, Anlagen und Einrichtungen, die im Katastrophenfall, etwa im Fall eines schweren Erdbebens, funktionstüchtig bleiben müssen. Verkehrsverbindungen kommt hier natürlich eine besondere Bedeutung zu.

Schwimmende Lagerung

Durch Erdbeben können Brücken in horizontaler und vertikaler Richtung zu Schwingungen angeregt und durch entsprechende Erdbebenkräfte beansprucht werden. Eine vertikale Anregung führt im Allgemeinen nicht zu Problemen, da für vertikale Kräfte dank der üblichen Bemessung für Schwerelasten meist erhebliche Reserven vorhanden sind. Eine horizontale Anregung hingegen stellt oft schon bei relativ kleiner maximaler Bodenbeschleunigung eine wesentliche Gefährdung dar. Konventionelle Lager, Stützen und Widerlager von Balkenbrücken reagieren meist sehr empfindlich auf horizontale Kräfte und Verschiebungen. Es können erhebliche Schäden entstehen, bis hin zum Absturz des Brückenträgers.

Ein zeitgemässer Grundsatz zur Erdbebensicherung von Balkenbrücken und deren erdbebengerechter Lagerung ist es, keine in Längs- und Querrichtung festen Lager anzuordnen. Sie erleiden bei Erdbeben enorme Kräfte und werden oft zerstört. Viel zweckmässiger ist eine sogenannte «schwimmende Lagerung» auf speziellen, in allen horizontalen Richtungen weichen Erdbebenlagern. Damit kann der Überbau (Brückenbalken) von den Bodenbewegungen weitgehend isoliert und die auf ihn einwirkenden Kräfte stark reduziert werden. Die Fahrbahnübergänge bei Dilatationsfugen müssen die nötigen Spielräume in Brückenlängsrichtung und die Aufnahme der dynamischen Kräfte in Querrichtung gewährleisten. Die Grundidee der Erdbebensicherung durch schwimmende Lagerung ist folglich, das Bauwerk in kontrollierter Weise einfach schwingen zu lassen, anstatt es an seinen Lagern festhalten zu wollen.

Die verschiedenen Lagerarten der instand gesetzten Brücke bei Raron. Die schwimmende Lagerung und die modularen Fahrbahnübergänge lassen im Erdbebenfall eine Verschiebung des Oberbaus zu.

Die Erdbebenertüchtigung der Rottenbrücke in Raron VS

Im letzten Jahrhundert wurden Schweizer Brücken meist noch ohne Berücksichtigung von Erdbebeneinwirkungen bemessen. Somit erfüllen sie nicht die Anforderungen, die heute an neue Bauwerke gestellt werden. Eine Erdbebenertüchtigung erfahren Bestandsbrücken meist erst im Zuge von Sanierungsarbeiten oder Umbauten. Dabei ist die Änderung des Lagerungskonzepts zu einer schwimmenden Lagerung eine bewährte Massnahme. Ein aktuelles Beispiel ist die Überführung über den Rotten und die Autobahn bei Raron VS, die auf der nördlichen Seite mit einem Halbanschluss ergänzt wurde.

1974 als Stahl-Verbundkonstruktion erstellt, wurde die Brücke bis 2023 saniert und mit zwei neuen, monolithisch angeschlossenen Anschlussrampen versehen. Dabei änderte sich das Lagerungssystem der Brücke grundlegend. In sechs Achsen ersetzte man querfeste Linienkipplager und in zwei Achsen querbewegliche Linienkipplager durch allseitig bewegliche Kalottenlager. In Längsrichtung war das Bestandsbauwerk im Bereich der Autobahn durch ein festes Topflager gehalten worden. Neu ermöglicht ein allseitig verformbares Elastomerlager mit Bleikern zur Energiedissipation eine Bewegung des Oberbaus. Auch die beiden neuen Rampen wurden in insgesamt sieben Achsen auf solche Lager gestellt.

Ein verformbares Elastomerlager mit Bleikern im Prüfstand

Elastomerlager mit Bleikern

Elastomerlager mit oder auch ohne Bleikern bewirken bei Erdbeben eine Dämpfung der Schwingungen des darauf gelagerten Bauwerks und können das Bauwerk durch ihre Rückstellkraft ganz oder teilweise wieder in die ursprüngliche Lage zurückführen. In der Schweiz und nördlich der Alpen kamen solche Lager erstmals 1998 bei der Erdbebenertüchtigung von zwei grossen Flüssiggastanks im Wallis sowie später bei der Erdbebenertüchtigung des Feuerwehrgebäudes Basel 2007 zum Einsatz . Die Dimensionierung der Lager (Höhe, Durchmesser, Schubmodul, Dämpfungsmass usw.) erfordert eingehende dynamische Berechnungen auch unter Benützung einschlägiger Erdbebenzeitverläufe. Die Lager bestehen aus relativ weichem, mit Stahlplatten bewehrtem Gummi (Elastomer) und müssen vor ihrem Einbau eingehenden Testversuchen und Zertifizierungen unterzogen werden.

Querschnittsansicht eines verformbaren Elastomerlager mit Bleikern

Spezielle Fahrbahnübergänge

Die neue Bewegungsfreiheit der Brücke inklusive der neuen Rampen machte Änderungen bei den Fahrbahnübergängen notwendig. Bei den Widerlagern der Brücke wurden die bestehenden Fahrbahnübergänge durch moderne modulare Übergänge mit Lärmminderung ersetzt und längere Gleitplatten angeordnet. Auch die Widerlager der neuen Rampen sind derart ausgestattet und darüber hinaus mit neuartigen Elementen für erdbebenbedingte Bewegungen versehen.

Diese sogenannten Fuse-Elemente werden lediglich im Falle schwerer Erdbeben aktiviert. Die relativ grossen Erdbebenbewegungen treten, anders als die meist deutlich geringeren Temperaturbewegungen, nur wenige Male und mit grossem zeitlichen Abstand auf. Fahrbahnübergänge direkt auf solch grosse Bewegungen auszulegen, wäre somit unwirtschaftlich und würde einen unnötig hohen Wartungsaufwand mit sich bringen. Im Dauerzustand erlaubt der Fahrbahnübergang die üblichen Verschiebungen in Längsrichtung der Brücke infolge Temperatur, Schwinden, Kriechen
und Bremskräften von Fahrzeugen. Im Erdbebenfall jedoch werden – im Sinne einer Sollbruchstelle – die Schrauben zur Befestigung des Abdeckblechs abgeschert. Das Blech schnellt hoch und gibt einen viel grösseren Spielraum frei, sodass die Brücke auf den nachgiebigen Erdbebenlagern ungehindert schwingen kann. Danach bleibt die Brücke mit geringen Einschränkungen befahrbar, und der Fahrbahnübergang kann ohne grossen Aufwand und in kurzer Zeit wieder vollständig hergestellt werden.

Modular expansion joint with noise-reducing sinus plates during installation.

Eine Lamellenfuge mit Fuse-Element beim Einbau. Bei starker horizontaler Belastung im Fall eines Erdbebens gibt das Abdeckblech eine grosse Fuge frei.

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